Vor ein paar Wochen schrieb ich in meinem Blog "Endlich: Merkel erwacht!", als es um die NSA-Ausspähaffaire ging Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens. Inzwischen muss ich einsehen, das ich mich da geirrt habe. Das war kein Erwachen, das war eher ein kurzes, unwilliges Knurren wie von jemand, der im Schlaf angestupst wird und brummt "lasst mich doch in Ruhe". Angela Merkel ist in ihren Dornröschenschlaf zurückgefallen und tut wieder einmal nichts in dieser Angelegenheit. Die Bundestagsdebatte zum Abhörskandal hat sie nach ein paar nichtssagenden Sätzen vorzeitig verlassen. Es ist ihr offenbar herzlich egal, was ausländische Geheimdienste in Deutschland treiben.
 
Das Geheimdienste spionieren, ist nichts Neues. Das ist schließlich ihre Aufgabe. Neu ist jedoch die Dimension, die diese Affaire angenommen hat. Es geht nicht mehr nur darum, Informationen über die wahren An- und Absichten von Politikern oder interne Geheimnisse von Unternehmen zu bekommen. Es geht darum, möglichst alle und jeden lückenlos überwachen zu können und nationale Interessen überall auf der Welt durchsetzen zu können.
 
Die totale Kontrolle gefährdet unsere Freiheit und unsere Demokratie. Das ist nicht nur bloßes Pathos einiger vermeintlicher Hysteriker. Das ist eine begründete Befürchtung. Wenn das Verhalten eines jeden von uns überwacht und analysiert wird und jeder das weiß, dann kann sich unser Verhalten ändern. Getreu dem beliebten und bequemen Motto "wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten" werden viele darauf achten, sich ihrer Meinung nach unverdächtig zu verhalten. Wobei gerade die besonders verdächtig sind. So mancher wird darauf verzichten, seine wirkliche Meinung zu bestimmten Themen öffentlich zu äußern, an Demonstrationen teilzunehmen oder sich einer Protestbewegung anzuschließen, um nicht ins Visir der Schnüffler zu geraten. Wer weiß, dass sein Verhalten überwacht wird und Abweichungen von einer Norm Konsequenzen haben können, der wird wahrscheinlich sein Verhalten entsprechend anpassen. Einzelne Personen, vor allem Politiker, können erpressbar werden. Damit werden einige wesentliche Errungenschaften unserer Gesellschaft, nämlich die Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und letztlich die Demokratie und die Souveränität unseres Landes ausgehebelt. Wir nähern uns still und leise einer Gesellschaft an, die in einem totalitären Überwachungsstaat lebt, wie ihn George Orwell in "1984" beschreibt. Das Konsequenzen für freie Meinungsäußerungen realistisch sind, zeigt das Beispiel eines Autors und Bloggers, der sich negativ über die NSA und die Rolle der USA geäußert hatte. Als er an einer Tagung in den USA teilnehmen wollte, wurde ihm die Einreise verweigert. Es gab zwar keine Begründung, aber ein Zusammenhang mit seinen Äußerungen ist durchaus möglich. Und so könnten sich auch andere Bürger, die z. B. in den USA Urlaub machen wollen oder dort Geschäftsbeziehungen unterhalten, veranlasst fühlen, sich nur noch merkelmäßig vage oder gar nicht mehr zu äußern. So können die Regierenden das Volk steuern anstatt umgekehrt, wie es in einer Demokratie der Fall sein sollte. Wer weiß, dass er unter permanenter Beobachtung steht, ist nicht mehr wirklich frei.

Inzwischen haben 562 Schriftsteller aus aller Welt (Writers Against Mass Surveillance) einen Aufruf gestartet, um die Politiker zum Umdenken zu bewegen. Wer den Appell lesen und sich vielleicht sogar dem Aufruf anschließen möchte, kann diesem Link folgen: http://www.change.org/petitions/die-demokratie-verteidigen-im-digitalen-zeitalter
 
Unserer geschäftsführenden Regierung ist das völlig egal. Im Gegenteil, eine unbedachte Bemerkung von Innenminister Friedrich, die er umgehend widerrufen musste, zeigt, dass unsere Politiker ein großes Interesse daran haben, selber alles und jeden überwachen zu können. Friedrich wollte die Mautdaten nutzen, um darin nach verdächtigen Verhaltensmustern zu suchen. Das muss man erst einmal verarbeiten: Es ginge dabei nicht darum, zu überprüfen, ob verdächtige Personen sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten aufgehalten haben und somit an einer Straftat beteiligt gewesen sein könnten. Für die Nutzung von Daten zur Aufklärung von Straftaten könnten wir ja noch Verständnis aufbringen. Doch hier wird die Sache umgedreht: Jeder gilt als verdächtig und muss folglich überprüft werden. Fehler in der Datenverarbeitung können dabei fatale Auswirkungen für unschuldige Betroffene haben. Wieviel Sicherheit wir durch die Abhörmaßnahmen gewinnen, lässt sich nicht objektiv feststellen. Auf jeden Fall aber opfern wir für die äußere Sicherheit einen Teil der inneren Sicherheit, wenn wir uns der Anfälligkeit und Willkür von Datenverarbeitungen, Algorithmen und Überwachern aussetzen.
Das Argument, es sei besser, von Geheimdiensten überwacht zu werden als von Unternehmen, weil die Dienste ja unter Kontrolle der Regierungen stünden, zieht nicht. Entweder ist der Überwachungswahn von den Regierungen so gewollt, oder die Dienste sind außer Kontrolle geraten und haben eine Parallelwelt aufgebaut. Den großen Unternehmen, die so eifrig Informationen über uns sammeln, geht es um Märkte, Werbung, Geld. Das ist schlimm genug. Doch den Regierungen geht es darum, unsere Freiheit einzuschränken und uns unter Kontrolle zu halten, uns, die wir die Regierenden kontrollieren sollten. Das alles ohne Gesetze, nur durch die latente Drohung "wir erfahren alles".
Auch den meisten Deutschen ist das egal. Sie spüren (noch) keine unmittelbaren Auswirkungen. So ist zu erklären, warum über 70% der Wahlberechtigten mit Merkels Untätigkeit zufrieden sind.
 
Als 1974 der Ostspion Guillaume im Kanzleramt enttarnt wurde, übernahm der damalige Kanzler Willy Brandt dafür die Verantwortung und trat zurück. Heute haben wir nicht einen Spion im Kanzleramt, sondern zahllose Agenten drumherum, was noch schlimmer ist. Merkel hat in ihrem Amtseid geschworen, für den Schutz und das Wohl des Landes einzutreten und Schaden abzuwenden. Daran hält sie sich nicht. Da sie nichts unternimmt, wäre ein Rücktritt nur anständig und konsequent. Doch dazu fehlt ihr die Größe genauso wie zu entschlossenem Handeln.
 
Warum sollten wir Edward Snowden Asyl gewähren? Für die USA ist er ein Verräter. Trotzdem gebührt ihm das Verdienst, die Welt über die Aktivitäten der amerikanischen und anderer Geheimdienste aufgeklärt zu haben, wofür er einiges in Kauf genommen hat. Wir müssen auch daran denken, dass die USA der Ansicht sind, ihr Recht gelte überall auf der Welt und sie sich daher nicht an geltendes nationales Recht anderer Länder halten müssten. Wo amerikanisches Recht nicht gilt, wie zum Beispiel bei uns, gibt es auch keine Verpflichtung, es anzuwenden. Snowden könnte also in Deutschland oder innerhalb der EU Asyl bekommen. Die Europäer hatten die große Chance, sich endlich einmal als Einheit zu präsentieren und dem amerikanischen Größenwahn seine Grenzen aufzuzeigen. Es wäre auch ein Zeichen für andere Whistleblower gewesen. Man hätte ihnen gesagt "Wer den Mut hat, solches Unrecht zu veröffentlichen, dem soll daraus kein Schaden entstehen". Doch nun hat ausgerechnet der "lupenreine Demokrat" Putin diese Chance ergriffen und sich zum Bewahrer der freien Welt aufgeschwungen. In der EU sorgt man sich statt dessen um die "freundschaftlichen Beziehungen" zu den USA. Doch was sind das für Freunde, die ihre Freunde ungeniert ausspionieren? Die Amerikaner sind zwar gerne patriotisch, aber auch pragmatisch. Am Ende zählen die wirtschaftlichen Belange mehr als alles andere und so würden sie ein bißchen grollen, aber einen Handelskrieg oder dergleichen vermeiden.
 
Hans-Magnus Enzensberger hat vorgeschlagen, Snowden in Norwegen, dem Land des Friedensnobelpreises, unterzubringen. Die Idee hat einen gewissen Charme, allerdings arbeitet auch der norwegische Geheimdienst, ebenso wie der schwedische, mit der NSA zusammen. Deutschland verdankt Edward Snowden genug, um ihn aufzunehmen. Nur ist es fraglich, ob er hier sicher wäre und nicht Gefahr liefe, von Agenten entführt zu werden. In Russland wird er nicht für immer bleiben können. Kein Platz für Helden?