Ich weiß, diese Überschrift provoziert. Das war auch meine Absicht. Vor allem die Linken werden aufschreien oder sich mit Grausen abwenden. Und das nur, weil sie einem großen Irrtum unterliegen. Es ist nicht so, dass ich für einen zügellosen, marktradikalen Liberalismus bin, wie ihn manche aus dem Wirtschaftslager, Neokonservative oder Anhänger der Tea-Party-Bewegung gerne hätten oder als Allheilmittel ansehen. Ich bin davon überzeugt, dass der Turbokapitalismus, wie wir ihn heute haben, scheitern wird. Ich halte aber auch nicht viel vom Sozialismus, der oft genug gescheitert ist. Kann es dazwischen einen Mittelweg geben? Ja, es kann - und das ist der Neoliberalismus in seinem ursprünglichen Sinne. Was bedeutet das?

Der Begriff "Neoliberalismus" wird heute vor allem in linken Kreisen gerne als Bezeichnung für alles benutzt, was nicht sozialistisch ist. "Neoliberal" hat die Funktion eines universellen Schimpfworts für Andersdenkende bekommen. Und weil damit alles so einfach wird, wird dieser Ausdruck mangels oder sogar wider besseren Wissens inflationär eingesetzt. Wer keine linke Partei wählt, ist neoliberal, die gleichgeschaltete Presse ist neoliberal, für den Smog in den Städten sind neoliberale Autofahrer verantwortlich. Die Welt kann ja so einfach sein. Durch die ständige Wiederholung prägen sich solche Begriffe zwar ein, ihre Verwendung wird aber nicht richtiger.

Was ist Neoliberalismus eigentlich? Dazu gehen wir zurück in die 1930er Jahre. Der Marktliberalismus, das heißt die völlige Freiheit der Wirtschaftsmärkte, hatte sich mit der industriellen Revolution in den USA und schließlich auch in Europa ausgebreitet und gerade eine Weltwirtschaftskrise veursacht. Vielen Menschen ging es schlecht, Unternehmen gingen pleite, Viele wurden arbeitslos. Zur Lösung des Problems enstanden zwei gegensätzliche Ansätze: Die Einen forderten noch mehr Freiheit für die Märkte und die Unternehmen. Der Staat solle sich komplett heraushalten, der Markt würde alles selber regeln. Die Anderen forderten eine strikte Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat oder gar die Verstaatlichung von Unternehmen.
Zwischen den Radikalliberalen auf der einen und den Sozialisten und Kommunisten auf der andeen Seite versuchte eine Gruppe von Wirtschaftsexperten einen Mittelweg zu finden. Ihr Ansatz war eine geregelte Marktwirtschaft, in der Macht und Einfluss von Unternehmen, insbesondere aus der Finanzbranche, begrenzt und gleichzeitig den Arbeitnehmern gewisse Grundrechte garantiert werden. Konzerne sollten nicht zu mächtig und Arbeitnehmer nicht ausgebeutet werden können. In den Nachkriegsjahren wurde daraus in Deutschland die "soziale Marktwirtschaft". Die Erfinder bezeichneten ihre Idee als "Neo-Liberalismus", weil sie eine neue Art des Liberalismus darstellte, einen Gegenentwurf zum bisherigen radikalen Marktliberalismus. Liberalismus deshalb, weil eine gewisse Freiheit für alle Marktteilnehmer erhalten blieb, im Gegensatz zu einer totalen Regulierung.

Der Turbo-Kapitalismus, den wir heute erleben, ist also in diesem Sinne kein Neoliberalismus, sondern der alte radikale Markt-Liberalismus. Ein Wirtschaftsjournalist nannte ihn einmal treffend "Paläoliberalismus", denn er ist nichts Neues, sondern etwas recht Altes, schon einmal Dagewesenes. Trotzdem hat sich der falsche Gebrauch dieses Begriffs inzwischen weit verbreitet und wird zunehmend nicht mehr nur von Anhängern des linken Flügels gepflegt. Einige kritische Stimmen sind der Ansicht, dass man angesichts der heutigen Verbreitung den falschen Gebrauch akzeptieren müsse. Ich bin da anderer Meinung, denn der Ausdruck "Neoliberalismus" taucht auch in älteren Texten auf, wo er eben seine ursprüngliche Bedeutung hat. Indem der Begriff nun umgedeutet wird, verändert sich auch der Kontext, in dem er steht. Ein alter Aufsatz, in dem neben "sozialer Marktwirtschaft" auch mal vom "Neoliberalismus" gesprochen wird, bekommt eine andere Aussage als von Autor vorgesehen. Das wird gelegentlich in linken Kreisen ausgenutzt, um damit auch die soziale Marktwirtschaft mit dem falschen Argument zu erschlagen, sie sei schon immer "neoliberal" im Sinne von marktradikal gewesen. Das geschieht zum Teil aus Unwissenheit, zum Teil aus Kalkül.

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, das der Begriff "Neoliberalismus" eigentlich eine ganz andere Bedeutung hat als die, die ihm heute zuerkannt wird. Und wenn ich sage, dass wir wieder einen Neoliberalismus brauchen, dann meine ich damit eine geregelte, soziale Marktwirtschaft. Von der haben wir uns tatsächlich weit entfernt.