Unsere Gesellschaft wird zunehmend intolerant. Wir erleben eine schleichende Radikalisierung unserer Gesellschaft, eine Tendenz zu mehr Egoismus und Abkehr von ethischen und moralischen Werten und Grundsätzen. Besonderen Ausdruck findet diese Erscheinung in der Politik. Dabei sind nicht die Parteien der Auslöser dieser Veränderung, sondern das Abbild unserer Gesellschaft, denn Parteien leben vor allem vom Zulauf, den sie bekommen. Auf dieser Ebene wird der Ton zunehmend schärfer und unsachlicher. Egal auf welcher Seite, man beschäftigt sich kaum noch mit den eigenen Zielen oder mit den Argumenten der Gegner. Statt dessen wird immer mehr versucht, den Anderen als Person zu diskreditieren. Das Niveau liegt dabei meist auf dem kleiner Kinder, die es nicht besser können, als sich gegenseitig zu beleidigen. Das färbt ab auf die Anhänger dieser Parteien. Es geht nicht um die Wahrheit, es geht ums Dagegensein. Wer eine andere Meinung hat, wird einfach als Lügner beschimpft und verunglimpft. Argumente oder gar Beweise spielen keine Rolle, oft gibt es auch keine. Da wird einfach geglaubt, was einem gefällt und dieser Glaube zum Dogma erhoben. Dementsprechend haben viele dieser verbalen Auseinandersetzungen den Charakter eines Glaubenskrieges. Auch die selbst ernannten Hüter der Meinungsfreiheit lassen nur ihre eigene Meinung gelten.

Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang der Trend, regelrechte Feindbilder aufzubauen. Hassprediger gibt es nicht nur unter Islamisten, es gibt sie auch unter uns und in vielen verschiedenen Schattierungen. Jede Gruppe hat ihre Lieblingsfeinde. Rechte hetzen gegen Ausländer und Kommunisten, Linke gegen Nichtlinke, Banker und alle, die mehr verdienen als sie selbst, neue Konservative gegen Anhänger der Grünen, Liberalen oder Biokost, Eltern gegen Kinderlose. Selbst in den Foren kirchlicher Seiten wird gegen Andersgläubige oder zu wenig Konservative gehetzt. Von christlicher Nächsteliebe keine Spur. Wer bei einer Bank arbeitet, ist ein Verbrecher, Unternehmer sind Ausbeuter, Naturschützer sind Ökoterroristen und Kinderlose sind Parasiten. Wer sich für Schwächere oder eine gerechtere Welt einsetzt, wird als Gutmensch verspottet, ein Schimpfwort aus der rechten Szene, das neuerdings auch auf der linken Seite verwendet wird. Die wenigen Argumente sind oft lächerlich primitiv, doch die Masche ist immer gleich. Der eigenen Klientel wird suggeriert, dass es ihr ziemlich schlecht geht oder in Bälde schlecht gehen wird und dann wird prompt eine gesellschaftliche Gruppe identifiziert, die daran Schuld sein soll und die es zu bekämpfen gilt. Offenbar lieben wir es, Feindbilder zu haben und zu pflegen. Auf sie können wir alles Schlechte abwälzen wie auf Voodoo-Puppen. Ich kann ja nichts für meine schlechte Lage, Schuld sind die Anderen. Es kann alles so einfach sein. Polemik gehörte schon immer zur Politik, doch wenn sie zum Selbstzweck wird, wenn ein Aufruf zur friedlichen Demonstration für Bürgerrechte als politische Brandstiftung diffamiert wird, wenn friedliche Andersdenkende mit Terroristen gleichgesetzt werden, dann läuft etwas schief in unserem Land. Mit freiheit hat das nichts zu tun, denn Freiheit ist auch immer die Freiheit des Andersdenkenden.

Diese Darstellung hat gerade eine unerwartete Aktualität bekommen. Ein Beispiel dafür, wie Feindbilder offen aufgebaut werden, lieferte das Nachrichtenmagazin "Focus" in seiner Ausgabe 48/10. Mehr dazu gibt es hier.


In wirtschaftlich und/oder politisch unsicheren Zeiten sind die Menschen noch empfänglicher für polemische Botschaften. Das können sich politische Rattenfänger zunutze machen. So ist es nicht überraschend, dass zunehmend über eine neue Partei "rechts von der CDU" gesprochen wird. Eine Partei links von der SPD gibt es schon, warum also nicht auch auf der anderen Seite? Die so genannten Volksparteien entfernen sich immer weiter vom Volk. Die Mitte, das stabilisierende Rückgrat der Gesellschaft, verliert die Orientierung und den Halt, sie bricht auseinander. Die entstehende Lücke wird nicht wieder geschlossen, sondern die enttäuschten Wähler wandern zu den Seiten ab. Wir haben schon fünf Parteien im Bundestag, bald könnten es sechs, sieben oder gar acht sein. Dann drohen uns politische Verhältnisse wie in der Weimarer Republik. Es gibt keine echten Mehrheiten mehr, sondern nur zerbrechliche Bündnisse. Wenn dann noch eine größere Krise hinzu kommt, könnte ein geschickter Demagoge, eine charismatische Führerfigur, die Macht an sich reißen. Geschichte kann sich wiederholen.

Die zunehmende Radikalisierung ist kein rein deutsches Phänomen. Wir können sie in vielen anderen Ländern beobachten, in denen bei Wahlen immer häufiger extreme Parteien gewinnen oder zumindest großen Zulauf haben. Auffällig ist dabei der Trend zu rechts-konservativen Parteien. Unserer Gesellschaft fehlen Ideale und Wertvorstellungen, an denen sie sich orientieren könnte. Das verschafft rechten Gruppen Zulauf, die genau das versprechen. Linke Gruppen, die hier weniger bieten können, versuchen das mit zunehmender Gewalt zu verhindern. Hier bauen sich Spannungen auf, die sich in großen Funken entladen könnten. Die wachsende Kluft zwischen arm und reich, die orientierungslose bürgerliche Mitte könnten das Pulverfass werden, das durch diese Funken zur Explosion gebracht wird. Sieht man sich die Diskussionen und Hetzkampagnen in verschiedenen Internet-Foren an, kommt man zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, die jeweiligen Parteien mit Knüppeln und Keulen auszustatten und aufeinander einprügeln zu lassen. Was über 100000e von Jahren funktioniert hat, kann doch nicht so verkehrt gewesen sein.

Ist unser Alltag so langweilig geworden, dass wir Feindbilder brauchen, um etwas Spannung hinein zu bekommen? Ist unser Egoismus so ausgeprägt, dass wir keine andere Meinung mehr dulden können? Ist der Großteil der Gesellschaft inzwischen so abgestumpft, dass er zu vernünftigen Diskussionen nicht mehr fähig ist? Wir brauchen wieder eine vernünftige Streitkultur. Das bedeutet nicht, dass sich die verschiedenen Fraktionen noch mehr streiten müssen, sondern das wir den Weg zurück zu sachlichen Diskussionen finden müssen. Die großen Probleme ließen sich noch nie durch Polemik, Extremismus oder Scheuklappendenken von Betonköpfen lösen. Wir wollen moderne Menschen sein, aber in mancher Hinsicht sind wir noch auf einem Niveau wie vor der Steinzeit. Der Frust über die persönliche Misere findet ein Ventil in der Lust am Niedermachen jener, denen es besser geht. Konstruktiv zu sein ist anstrengend, destruktiv zu sein befreit, zumindest für kurze Zeit.

Die verunsicherte, frustrierte Mitte wird durch eine verunglückte Politik gespalten. Diejenigen, die noch etwas haben, wollen das bewahren und suchen Schutz bei den Konservativen. Diejenigen, die schon etwas verloren haben, wollen sich das zurück holen und schließen sich den Linken an, um gegen die Ausbeuter zu kämpfen. In der Mitte entsteht ein Vakuum, das sich eines Tages mit lautem Knall füllen könnte.