Thilo Sarrazin und die verschiedenen Wahrheiten
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Als ich den nachfolgenden Beitrag im Oktober 2009 schrieb, ahnte ich nicht, dass ich ihn 10 Monate später würde ergänzen müssen. Die sich verändernde Qualität der Diskussion macht einen zusätzlichen Kommentar notwendig, wobei ich versuche, objektiv zu bleiben, so gut es geht. Das habe ich anscheinend vielen Redakteuren und Politikern voraus.
Oktober 2009: Thilo Sarrazin hat wieder zugeschlagen. Der neue Chef der Bundesbank lästert über Berlin, die Stadt, in der er einmal Finanzsenator war. Insbesondere über die dort lebenden Türken und Araber lässt er sich aus, was zu einem Aufschrei der Empörung geführt hat. Zu Recht?
Sarrazin redet gerne Klartext und er provoziert gerne. Er sagt, was er denkt und er beschreibt, was er sieht. Natürlich ist vieles subjektiv und so manches mag auch überspitzt formuliert sein. Manches ist aber auch richtig und gibt wieder, was viele denken. Nur diejenigen, die unsanft aus ihren Träumen gerissen wurden, fordern, dass man den Überbringer der schlechten Nachrichten köpfen möge. Womit sie nur ihre eigene Hilflosigkeit offenbaren.
Was ist so schlimm an türkischen Gemüseläden? Offensichtlich ist genügend Nachfrage vorhanden und die meisten Deutschen wollen diese Arbeit nicht machen. Zudem zahlen viele solcher Händler mehr Steuern als so mancher DAX-Konzern. Das sollte man einmal bedenken. Hier muss Sarrazin aufpassen, dass er nicht über das Ziel hinaus schießt und den rechten Gruppierungen Munition liefert.
Auf der anderen Seite gibt es Zuwanderer, die seit 20 oder gar 30 Jahren hier leben oder Jugendliche, die hier geboren wurden und die kaum oder gar kein Deutsch sprechen. So ist die vielzitierte Integration nicht möglich. Das sind Tatsachen, die Sarrazin zu Recht deutlich anspricht. Es haben sich, nicht nur in Berlin, Parallelkulturen entwickelt. Ein Staat im Staat. Diskutieren kann man allerdings darüber, ob diese Menschen nicht integrationswillig sind oder ob unsere Einwanderungs- und Integrationspolitik schlicht gescheitert ist. Das offen anzusprechen ist richtig und notwendig. Die Probleme sind vorhanden und sie können nur gelöst werden, wenn man sich ihnen stellt, ihre Ursachen ermittelt und abstellt. Nicht aber, indem man sie ignoriert und so tut, als wäre alles in schönster Ordnung. Wer auf Dauer in einem anderen Land leben will, muss nun einmal gewisse landestypische Dinge respektieren. Dazu gehören neben der Sprache auch die Achtung des dort geltenden Rechts und der Kultur. Dafür muss man die eigene Kultur und Identität nicht vollständig aufgeben, aber sich ein wenig anpassen. Wer dazu nicht bereit ist, hat sich das falsche Land ausgesucht. Das gilt überall auf der Welt, warum also nicht auch in Deutschland?
Thilo Sarrazins Äußerungen und Sprüche sind provokativ und auch etwas polemisch, doch daraus gleich Volksverhetzung zu machen, ist absurd. Bezeichnenderweise sind es diejenigen, die in den Rathäusern sitzen, die sich von der verbalen Keule am stärksten getroffen fühlen. Sie ermöglichen durch ihr Handeln oder besser unterlassen desselben die angeprangerten Missstände.
Jetzt, im August 2010, hat Thilo Sarrazin erneut "zugeschlagen". Und dieses Mal sind nicht nur seine Äußerungen noch etwas schärfer ausgefallen, sondern auch die öffentlich vorgetragene Empörung hat eine neue Qualität bekommen. Anlass ist ein dpa-Bericht über einen Vortrag, den Sarrazin vor kurzem hielt. Auf diesen Bericht, der von vielen Zeitungen mehr oder weniger genau übernommen wurde, beziehen sich nun die zahlreichen Kritiker. Keiner von ihnen war dabei, aber alle fühlen sich berufen, Sarrazin aufgrund von Informationen aus zweiter oder dritter Hand zu verurteilen. Und noch etwas kommt hinzu: die Angriffe richten sich gegen die Person Sarrazin und gegen die Art seiner Äußerungen, doch kaum jemand setzt sich einmal intelligent mit seinen Thesen auseinander. Wobei einige Aussagen möglicherweise von den Redakteuren noch etwas zugespitzt wurden, um mehr Wirkung zu erzielen. Eine gute Überschrift ist wichtig, damit ein Artikel gelesen wird. Zudem werden Sätze aus dem Zusammenhang gerissen und frei interpretiert. Insbesondere die selbsternannten Hüter der Meinungsfreiheit blasen zur Hexenjagd auf einen, der seine Meinung frei äußert. Es ist eben nicht die richtige Meinung.
Sarrazin will auf verschiedene Missstände hinweisen und das macht er sehr lautstark und werbewirksam. Protest und Empörung sind dabei einkalkuliert und sorgen für eine bessere Verbreitung seiner Thesen. Manche seiner Sprüche sind dabei bewusst grenzwertig formuliert. Andererseits wird man mit leisen, netten Sätzen im heutigen multimedialen Getöse kaum noch gehört.
"Deutschland schafft sich ab" betitelt Sarrazin sein Buch und meint damit, dass die Deutschen wegen ihrer niedrigen Geburtenrate immer weniger werden, während die Ausländer immer mehr werden. Hier muss man einmal die Frage stellen, wer eigentlich "Deutscher" ist. Das lässt Sarrazin offen. Gilt als Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt? Oder wer hier geboren wurde? Oder wessen Familie seit drei Generationen hier lebt? Oder muss man bestimmte Anforderungen an Abstammung und Aussehen erfüllen?
Ob die Deutschen eines Tages aussterben oder ob sich ihre Zahl auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert, ist ebenfalls offen. Momentan ist der Trend negativ, viele junge Paare haben keine Lust mehr, Kinder in die Welt zu setzen, sondern wollen sich lieber "selbst verwirklichen". Ein einfacher, evolutionärer Prozess könnte jedoch dazu führen, dass diese "Unwilligen" aussterben und die anderen überleben. Genauso unsicher ist die Prognose, dass die Ausländer irgendwann in der Mehrzahl sein werden. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass mit zunehmendem Wohlstand im allgemeinen die Geburtenrate abnimmt.
Hier einmal eine kleine Grafik, die veranschau-licht, wie sich die Bevöl-kerung in Deutschland bis 2200 entwickeln könnte. Die Y-Achse stellt die Kopfzahl in Millionen dar, eine Generation ist 26 Jahre.
Die blaue Kurve stellt die Anzahl der deutsch-stämmigen Menschen dar, wenn sie weiterhin 1,38 Kinder pro Paar bekommen. Die rote Kurve zeigt die Entwicklung der Zahl der Muslime, wenn sie 2,5 Kinder pro Familie haben und zusätzlich netto 100000 Muslime jährlich einwandern. Die gelbe Kurve zeigt, was passiert, wenn sich muslimische Familien dem allgemeinen Trend anschließen, weniger Kinder zu haben. Schon bei 1,9 Kindern je Familie sinkt ihre Zahl trotz Zuwanderung von 100000 Menschen jährlich. Thilo Sarrazin rechnet in seiner Prognose mit 4 Kindern pro Familie, was aber für die Mehrzahl der Muslime schon heute zu hoch angesetzt ist. Deutschland schafft sich ab? Ja, das kann passieren, aber daran sind nicht die Moslems schuld, sondern wir selber. Das die Zahl der Moslems dramatisch ansteigen wird, ist kaum zu erwarten und auch solche Trendrechnungen sind sehr unzuverlässig. Trends können sich schnell ändern.
Auch an anderen Stellen seines mit Statistiken schwer beladenen Buches interpretiert Sarrazin die Zahlen recht großzügig und tendenziös. Noch schlimmer: Wo echte Zahlen fehlen, setzt er "gefühlte" Daten ein. So wirkt manches eher bemüht als eindeutig.
Wer durch deutsche Großstädte geht, kann sich selbst davon überzeugen, dass es dort durchaus Parallelwelten gibt. Ein ganzer Stadtteil lebt praktisch autonom wie ein kleiner Staat im Staate. Integration ist da nicht notwendig. Nebeneinander statt miteinander. Hier hat unsere Politik versagt, aber auch viele Bürger. Sarrazin schürt an dieser Stelle eine gewisse Angst vor Ausländern, insbesondere vor gewalttätigen Moslems. Dabei sind wir selber ebenfalls Ausländer, nämlich in jedem anderen Land. Der Islam ist mit etwa 1,5 Milliarden Anhängern die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach dem Christentum mit 2,1 Milliarden Gläubigen. Die allermeisten von ihnen sind ebenso friedliebend wie die Christen und andere. Gewaltbereitschaft entsteht nicht vorrangig durch die Religion, sondern durch das Fehlen von persönlichen Perspektiven. Da gibt es zwischen deutschen und Ausländern, Christen und Moslems, keinen Unterschied. Hassprediger gibt es nicht nur im Islam, sondern auch bei uns in extremistischen politischen Gruppierungen. Das darf man nicht übersehen.
Werden wir immer dümmer? Das ist zumindest Sarrazins Ansicht. Zuwanderer aus "bildungsfernen Schichten" würden die durchschnittliche Intelligenz in unserem Land senken. Nun, wenn man eine Klasse mit einer gewissen Anzahl an guten Schülern um eine bestimmte Anzahl an schlechten Schülern, denen notwendiges Vorwissen fehlt, erweitert, dann wird zunächst der Notendurchschnitt sinken. Das ist kein Rassismus, das ist keine Polemik, das ist einfache Mathematik. Darauf hätte auch Sarrazin kommen können. Nur: Wenn man den neuen Schülern hilft, das Niveau der anderen zu erreichen, dann wird auch der Schnitt wieder steigen. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Wenn man Intelligenz als Fähigkeit zum Denken und Lernen definiert, dann irrt Sarrazin und schweift in braune Gefilde ab, wenn er andeutet, Menschen aus nahöstlichen Kulturkreisen seien weniger intelligent als Europäer. Es kommt darauf an, die vorhandenen Fähigkeiten zu wecken. Aus einem Samen, der nicht in gute Erde gesteckt und regelmäßig gewässert wird, wird nie ein starker Baum werden, auch wenn er alle Anlagen dazu in sich trägt. Dafür, dass bestimmte Kulturen weniger intelligent sind als andere und somit niemals über ein bestimmtes Niveau hinauskommen können, gibt es keine wirklichen Belege. Im Orient gab es bereits ausgezeichnete Baumeister, als die Europäer noch in einfachen Hütten wohnten, hervorragende Wissenschaftler und Gelehrte, die größte Bibliothek. Dort wurde die Schrift erfunden und das Rechnen mit der Zahl Null, worauf unsere heutige Mathematik aufbaut.
Nebenbei bemerkt: Um die zunehmende Verdummung zu erklären, brauchen wir keine Migranten. Die schaffen wir auch alleine. Wenn sich Jugendliche und junge Erwachsene pausenlos mit niveaulosen Doku-Soaps berieseln lassen, wenn breite Teile der Bevölkerung jede geistige Anstrengung vermeiden, wenn Eltern ihre zweijährigen Sprösslinge vor dem Fernseher parken, anstatt sich mit ihnen zu beschäftigen und sie zu fördern, dann brauchen wir uns über ein sinkendes Bildungsniveau nicht zu wundern.
Juden haben ein gemeinsames Gen? Ja, das ist richtig. Mehr aber auch nicht. Damit einen verbreiteten, vererbbaren Makel zu suggerieren ist unsinnig. Auch Asiaten, Afrikaner, Blauäugige oder Rothaarige haben ein gemeinsames Gen. Na und? Das wissen wir schon aus dem Biologie-Unterricht. Eine Aussage, die eine gewisse Stimmung erzeugen soll, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als bedeutungslos.
Wer Migranten mit geringer Bildung ins Land lassen will, der muss ihnen die Möglichkeit bieten, auf das Niveau des Landes zu kommen. Hier hat unsere Integrationspolitik bisher versagt und darauf deutlich hinzuweisen ist legitim. Die Politiker sind aufgefordert, nach Ursachen und Lösungen zu suchen anstatt den Überbringer der schlechten Nachrichten hinzurichten, auch wenn die political correctness das verlangt. Es muss erlaubt sein, in unserem Land auch Missstände anzusprechen, nur wäre eine sachliche Diskussion darüber sinnvoller und hilfreicher als die derzeitige Polemik. Erschreckend ist nicht, was Thilo Sarrazin sagt, sei es nun richtig, falsch oder überspitzt. Erschreckend ist, wie schnell Medien, Politiker und die breite Masse bereit sind, jemanden zu verurteilen, auch wenn sie kaum wissen, worum es geht. Erschreckend ist, wie bereitwillig Meinungen und Interpretationen übernommen werden, ohne das sich jemand mit den Fakten und Hintergründen dazu beschäftigt hat. Da macht leider an vielen Stellen auch Thilo Sarrazin selbst keine Ausnahme.
Thilo Sarrazin macht zu Recht auf einige Mißstände aufmerksam, doch am Ende übertreibt er und setzt sich dem Verdacht der Stimmungsmache Fremdenfeindlichkeit aus. Waren die ersten gemäßigteren Äußerungen nur Teil einer gelungenen PR-Aktion, oder ist ihm am Ende die Sache immer mehr entglitten? In seinen letzten Vorträgen Anfang 2011 konnte man den Eindruck gewinnen, dass er sich in eine Idee verrant und den Bezug zur Realität zumindest teilweise verloren hat. Schade, denn anstatt Dskussionen über mögliche Verbesserungen anzustoßen nützt er so nur noch den Rechtsradikalen.