Fortschrittsverweigerer und Restrisiken
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Fortschrittsverweigerer und Restrisiken
In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir irgendwelchen Risiken ausgesetzt. Mal sind sie klein, mal groß. Wir haben uns daran gewöhnt und gelernt, damit zu leben. Wenn es möglich ist, versuchen wir die Risiken möglichst klein zu halten. Was dann noch übrig bleibt, nennen wir Restrisiko. Es gibt Restrisiken, die natürlichen Ursprungs sind und die wir nicht ausschalten können, und es gibt selbstgemachte Restrisiken. Das sind Straßenverkehr, Flugzeuge, falsch berechnete Gebäude, medizinische Eingriffe und Medikamente genauso wie Kernkraftwerke. Wir leben in einem Zeitalter des Restrisikos. Ist das der Preis, den wir für unseren hohen Lebensstandard, für Komfort und Freiheit zahlen müssen? Dann stellt sich gleich die Frage, wie hoch dieser Preis sein darf. Wie hoch darf ein Restrisiko sein, wie viele Menschenleben dürfen wir im Extremfall riskieren, damit es einer Mehrheit weiterhin gutgehen kann? Kernkraftwerke sind etwa so sicher wie Flugzeuge. Nur, wenn ein Flugzeug abstürzt, bleibt es im Durchschnitt bei rund 200 Toten, was schlimm genug ist. Wenn ein Kernreaktor explodiert, kann die Zahl der Opfer, Spätfolgen eingerechnet, leicht in die Hunderttausende gehen. Wie viele Opfer sind moralisch vertretbar?
Wer sich gegen die Nutzung von Atomkraft ausspricht, wird schnell als Fortschrittsverweigerer bezeichnet. Was ist denn eigentlich Fortschritt? Fortschritt sollte eine Verbesserung eines bestehenden Zustandes oder Systems bringen. Ist es also Fortschritt, einen Bahnhof (Stuttgart 21) tiefer zu legen? Ist es Fortschritt, ein Kernkraftwerk mit veralteter Technik länger zu betreiben? Ist das alles, was unser Land derzeit an Innovationen zu bieten hat? Im Fall von Stuttgart 21 geht es um eine große Baumaßnahme, aber nichts wirklich Neues, im Fall der veralteten AKW ist es sogar technischer Stillstand. Hier wird nur Bestehendes bewahrt und Neuerungen behindert. Die wirklichen Fortschrittsverhinderer sind also gerade diejenigen, die die Kernkraft- oder Bahnhofsgegner beschimpfen. Sie konservieren alte Denkschemata und blockieren alternative Lösungen, die echte Verbesserungen bringen könnten. Der Verzicht auf Kernenergie würde unser Land ins Mittelalter zurückwerfen, behaupten die Lobbyisten. Das Gegenteil ist richtig. Knapper werdende Energie würde uns zwingen, neuie Lösungen zu suchen. Damit würden wir Fortschritt erzielen. Es heißt nicht ohne Grund "Not macht erfinderisch".
Die Industrie droht schon einmal mit höheren Preisen, dem Verlust von Arbeitsplätzen und Wettbewerbsfähigkeit und die Lobbyisten verkünden das Ende des Wohlstands, weil Strom teurer werden könnte. Dabei gibt es durchaus Anbieter, die Energie aus regenerativen Quellen zu vergleichbaren Preisen anbieten. Atomstrom ist nur für die Industrie günstig, der Normalverbraucher zahlt gleich doppelt drauf. Zum Einen wird die Kilowattstunde trotzdem teuer verkauft, was den Energieerzeugern schöne Gewinne beschert, zum Anderen sind Kosten für Endlagerung und Abbau alter Anlagen nicht im Preis enthalten. Die zahlen wir unauffällig über unsere Steuern. Kein Kernkraftwerk ist gegen die möglichen Risiken seines Betriebes versichert, weil keine Versicherung diese Risiken übernehmen will. Im Schadensfall zahlt dann also - der Steuerzahler. Die Industrie beteiligt sich daran nicht.
Beim Geld hört die Moral auf und der deutsche Michel wird hellhörig. Da nimmt er dann doch lieber ein paar Restrisiken in Kauf. Es wird schon nichts passieren, Hauptsache, unser Wohlstand bleibt gewahrt. Dabei verdanken wir unseren hohen Lebensstandard nicht vorrangig billigem Strom, sondern der Tatsache, dass wir so viele billige Produkte importieren können. Anders gesagt: Dem Umstand, dass anderswo Menschen zu Hungerlöhnen für uns arbeiten.
Ökonomen haben ausgerechnet, dass im Falle eines Super-GAUs der wirtschaftliche Schaden 4-6 Billionen € betragen könnte, das zehnfache des BIP. Das wäre der wirtschaftliche Ruin unseres Landes. Der Verzicht auf Atomstrom muss nicht das Ende des Wohlstands bedeuten.
Spiegel Online hat ausgerechnet, dass ein Umstieg auf erneurbare Energien uns etwa 230 Mrd. € kosten würde. Das ist viel, allerdings würde sich diese Investition über 10, 20, vielleicht sogar 40 Jahre hinziehen. Und es wäre eine echte Investition in die Zukunft. Die Preise für "Ökostrom" könnten zukünftig sogar sinken, die Preise für Kohle, Öl, Gas und auch Uran werden dagegen mit Sicherheit weiter steigen. Unser Beitrag zur Rettung des Euros ist übrigens kaum geringer. Warum schreit da niemand auf? Die ersten großen Stromanbieter haben schon die Ökostrom-Lieferanten preislich eingeholt und sogar überholt. Es sind börsennotierte Unternehmen, die ständig steigende Gewinne ausweisen müssen. In einem stagnierenden oder gar schrumpfenden Markt geht das nur über Preiserhöhungen, seien sie gerechtfertigt oder nicht. Da ist jede Ausrede willkommen.
Das Leitungsnetz stammt zu einem guten Teil noch aus den 1950er Jahren und muss in absehbarer Zeit ohnehin erneuert werden. Damit relativiert sich ein Teil der Kosten.
Eine Studie des WWF ergab, dass ein Umstieg auf nahezu 100% regenerative Energien bis 2050 realisiert werden könnte. So langfristig plant kein Unternehmen. Die Privatwirtschaft scheut Investitionen, wenn sie nicht in kurzer Zeit ordentliche Renditen abwerfen. Es ist daher zu überlegen, ob die Energieversorgung nicht wieder in die kommunale oder staatliche Hand zurück geführt werden sollte. nur da sind generationenübergreifende Planungen möglich.
Wirklichen Fortschritt zu schaffen bedeutet, die alten Pfade der Technik und des Denkens zu verlassen und neue Wege zu suchen. Statt an der vermeintlichen Sicherheit von Kernkraftwerken zu schrauben, sollten wir daran arbeiten, andere Energiequellen besser zu erschließen und effizienter zu nutzen. Für schwankende Angebote und Nachfragen von Energie brauchen wir intelligente Speichersysteme. Daran wird aber kaum geforscht, obwohl daraus ein neuer Exportschlager werden könnte. Es mag schon sein, dass uns andere Länder zunächst nicht folgen werden, na und? Einer muss den Anfang machen. Wenn alles nur darauf warten, dass ein anderer den großen Durchbruch schafft, dann werden wir ewig warten. Viele große Erfindungen und Neuerungen kamen in der Vergangenheit aus Deutschland. Warum sollten wir nicht auch auf dem Energiesektor etwas Neues schaffen und damit weltweit Vorbild werden können? Wir haben kaum andere Ressourcen als unsere Ideen. Also, machen wir was draus!