Das Merkel-Prinzip
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Bundeskanzlerin Angela Merkel gilt als phlegmatisch, zaudernd, unentschlossen, planlos. Manchmal hat man den Eindruck, gegen sie war der Aussitz-Kanzler Helmut Kohl geradezu hyperaktiv. Emotionen zeigt sie fast nur, wenn sie ein Länderspiel besucht. Geht es nach den Kommentaren zahlreicher Journalisten, Publizisten und Denker, so haben wir derzeit die schlechteteste Regierung seit Bestehen der Bundesrepublik. Und trotzdem kann sich Angela Merkel über breite Zustimmung und gute Noten freuen. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger ist mit ihrer Arbeit zufrieden, mehr, als die Union Wählerstimmen hat. Auf der Beliebtheitsskala steht sie ganz oben. Wie passt das zusammen? Wie kann eine scheinbar so untätige Regierungschefin so beliebt sein? Ein Erklärungsversuch.
Es gibt nicht die eine Erklärung für das Phänomen Merkel, es gibt mehrere, die zusammen wirken. Hier sind ein paar Eindrücke:
1. Angela Merkel fällt nie unangenehm auf. Ob Bundestagsdebatte oder Wahlkampf, sie hält sich zurück, gibt die Besonnene. Das ebenso übliche wie unnütze Hauen und Stechen überlässt sie anderen. So fällt sie in der Horde der Wüteriche allenfalls positiv auf.
2. Sie sagt nicht viel und wenn, dann kaum einmal etwas konkretes. Meistens hören wir nur hohle Phrasen, die beliebig austauschbar sind. NSA-Affäre: "So geht das nicht." Verfälschter Armutsbericht: Kein Kommentar. So sagt sie auch nichts Falsches.
3. Sie nimmt der Opposition die Themen weg. Energiewende, Kita-Plätze, Mindestlohn oder Finanzmarkttransaktionssteuer wurden gegen den Widerstand der Konservativen in den eigenen Reihen in die Agenda aufgenommen und damit der Konkurrenz der Wind aus den Segeln genommen. Zwar wird so manches dann nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt, aber das Thema ist erst einmal besetzt.
4. Sie hört auf das, was in der Bevölkerung diskutiert wird und reagiert auf Stimmungen. Man kann das konzeptlos und opportunistisch nennen, oder auch echte Demokratie. Es ist sicher nicht immer sinnvoll, dem Volk Brot und Spiele zu geben, wen es danach verlangt, aber es kommt gut an. Nach der Katastrophe von Fukushima war der Ausstieg aus dem Ausstieg nicht mehr opportun und so kam binnen weniger Tage eine 180°-Wende. Damit sichert sie sich Zustimmung.
5. Merkel beschützt die Deutschen. Sie sorgt dafür, dass wir nicht zu viel für die Euro-Rettung zahlen müssen und weist die "faulen Club-Med-Länder" in ihre Schranken (bzw. lässt Wolfgang Schäuble das tun). Beim Thema Geld ausgeben ist der deutsche Michel ja besonders sensitiv. Damit ist zwar kein Problem gelöst, aber wir sind beruhigt.
6. Schuld sind immer die anderen. Läuft innerhalb der Regierung etwas schief, ist schnell ein Schuldiger gefunden. Mutti Merkel kehrt nur die Scherben zusammen und räumt auf. Die Liste der Minister, die vorzeitig gehen mussten, ist lang. Zudem gelingt es ihr erstaunlich gut, von eigenen Fehlern abzulenken. Abhörskandal, BND-kontrolle, explodierende Strompreise, Merkel ist nicht verantwortlich. Der exzessive Ausbau der Biogas-Produktion mit all seinen negativen Nebenwirkungen wurde von der Regierung Merkel angeschoben, doch glauben viele Unionsanhänger tatsächlich, das ginge aus das Konto der Grünen.
7. Merkel ist lernfähig und verspricht nichts, was sie nicht sicher halten kann. Und wer keine Versprechen abgibt, der kann auch keine brechen.Hier hat sie aus eigenen Fehlern und vor allem aus denen ihrer Vorgänger und Konkurrenten gelernt. Was nicht gut ankam, wird aus dem Programm gestrichen oder verschwiegen. So bleibt sie fast unangreifbar.
8. Wir sind satt und zufrieden. Das gilt zumindest für den überwiegenden Teil der Bevölkerung. Wem es gut geht, wer alles hat, was er braucht, der wünscht sich auch keine Veränderung. Wir wissen zwar nicht, was mit Angela Merkel noch alles auf uns zu kommt, aber es wird kaum etwas anders werden. Und das ist beruhigend. Zum besseren Verständnis hilft vielleicht auch ein Blick in den Süden der Repubik, nach Bayern. Dort sind Skandale, Amigo-Affären, unmotivierte Minister und Selbstbedienungsmentalität seit Jahrzehnten normal und trotzdem besteht kein Zweifel daran, dass die CSU weiterregieren wird. Den meisten Bayern geht es gut, die Regierung lässt sie in Ruhe und sie lassen die Regierung in Ruhe. Leben und leben lassen, und daran soll sich nichts ändern. Wem es gut geht, der will keine Probleme sehen.
Hat die Regierung Merkel keine Ziele, keine Orientierung? Doch. Das erste Ziel ist, an der Macht zu bleiben. Dafür gibt sich Angela Merkel nach allen Seiten hin offen. Sie wolle eine Kanzlerin aller Deutschen sein, hat sie einmal gesagt. Um möglichst viele zu erreichen, versucht sie nicht, Wähler von überall her zur CDU zu locken, sondern sie verschiebt die CDU dorthin, wo das größte Potenzial zu erwarten ist. Damit macht sie aus der CDU eine Partei der Beliebigkeit, von der man nicht genau weiß, wofür sie steht. Das ging einigen schon zu weit, selbst der unionsfreundliche "Focus" startete einmal eine Anti-Merkel-Kampagne und versuchte, konservativere Köpfe wie Stoiber oder Koch als Parteichefs zu lancieren. Ohne Erfolg, sie hat intern eine starke Rückendeckung.
Angela Merkel führt Deutschland, wie es der Stern formulierte, "wie einen Gemischtwarenladen". Was gut läuft, wird ausgebaut, was schlecht läuft, fliegt aus dem Sortiment. Das mag für ein Geschäft richtig sein, doch eine Staatsregierung muss auch den Mut haben, manchmal unbequeme Wege zu gehen, um ein Ziel zu erreichen. Was am Anfang versäumt wird, rächt sich später um so mehr.
Das zweite Ziel ist eigentlich keins, hier wird die Regierung und speziell Angela Merkel von der Wirtschaft getrieben. Das merkt man hin und wieder, wenn sie wieder einmal ihr Mantra daherbetet: Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Das ist das, was ihr für Deutschland wichtig ist. Alles andere ist egal. Das es kein unendliches Wachstum geben kann, sollte sie als Physikerin wissen. Das staatlich angeschobenes Wachstum in den meisten Fällen zu höherer Staatsverschuldung führt, dürfte den befürwortenden Industrien und Banken egal sein. Zudem lässt die Wirtschaft nur ein gewisses Maß an Wachstum zu. Wenn wir das ausschöpfen, bleibt für andere entsprechend weniger. Wie sollen dann z. B. die Euro-Krisenländer wieder auf die Füße kommen? Am Ende steht dann eine Transferunion und wir geben unsere Gewinne wieder ab.
Und was bedeutet "mehr Wettbewerbsfähigkeit"? Wir haben schon einen neuen Rekord beim Exportüberschuss erzielt. Sind wir trotzdem nicht wettbewerbsfähig? Das selbe verlangt Merkel von den Krisenländern: Sie müssen wettbewerbsfähiger werden. Wohin soll das führen? Was irgendwo exportiert wird, muss woanders importiert werden. Es können also nicht alle immer nur Exportüberschüsse erzielen und diese auch noch ausbauen. Es können nicht alle Exportweltmeister sein. Ebenso gut könnte man verlangen, dass alle Bundesliga-Vereine in einer Saison deutscher Meister werden. Dieses Ziel ist nicht nachhaltig, sondern von der Wirtschaft vorgegeben. Wohin es führen kann, zeigt dieses Beispiel: In Portugal und Spanien sind die Löhne so stark gesunken, dass sie nun wettbewerbsfähig sind. Erste Unternehmen aus Deutschland überlegen oder beginnen, ihre Produktion dorthin zu verlagern, weil sie dann günstiger produzieren können. Das heißt für uns, dass auch wir günstiger werden müssen, damit wir wieder... Genau. Und so wundert es nicht, dass auch das Thema Lohnuntergrenze schon wieder totgeschwiegen wird. Hier handelt Merkel nach dem amerikanischen Grundsatz "was gut für die Unternehmen ist, ist auch gut für das Land".
Die Strompreise explodieren nicht alleine wegen der energiewende, sondern auch deswegen, weil die Industrie kräftige rabatte bekommt. Diese Subventionen zahlen die privaten Verbraucher und kleinere Unternehmen. Für die Großindustrie muss Energie günstig bleiben, wegen... Sie wissen schon.
Im Sommer 2007 präsentierte sich Merkel als "Klimakanzlerin" und besuchte medienwirksam Grönland. Doch seitdem Seitdem wurden konsequent alle Klimaschutz-Maßnahmen torpediert, die der Industrie schaden könnten. Zuletzt wurde der EU-Entwurf zur Senkung des CO2-Ausstoßes von Kfz durch Deutschland blockiert, auf Drängen der deutschen Autoindustrie. Und nach vielen Klimagipfeln ohne Ergebnis steigt der CO2-Ausstoß auch in Deutschland wieder an.
Auch Ansätze zur Regulierung der Finanzmärkte verschwanden wieder in der Schublade. Sei es die Aufspaltung von banken oder die Transaktionssteuer, nichts davon kommt oder wenn, dann nur als light-Version.
Schließlich bleibt auch die Euro-Rettung nur Stückwerk. Die Probleme sind keineswegs gelöst, sie wurden lediglich in die Zukunft verschoben. Griechenland benötigt schon bald weitere Milliarden, doch das soll noch niemand wissen. Das DIW empfahl der Bundesregierung, erst nach der Wahl darüber zu sprechen. Merkel erweckt zwar den Anschein, als würde sie alles gut überlegen was sie sagt und macht, doch tatsächlich agiert sie kurzfristig. Ein umfassender Plan oder der Blick für das große ganze fehlen ihr. Da aber die meisten Menschen nicht gerne langfristig denken mögen, wird das ihrer Beliebtheit nichht schaden. Wenn wir die Wahl haben zwischen einem, der sagt "es sind noch einige Anstrengungen nötig, um aus dem Schlamassel heraus zu kommen" und einem, der sagt "alles wird gut", dann fällt die Entscheidung leicht.