Sind wir jetzt wieder alle Amerikaner?
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Die Amerikaner spionieren uns aus. Nicht nur uns, sondern die ganze Welt. Was für ein Skandal! Aber haben wir das nicht schon lange geahnt? Neu ist das alles nicht, ob Prism oder Tempora. Wer erinnert sich noch an das Echelon-System, das nichts anderes als die Ausspähung jeglicher Kommunikation zum Ziel hatte? Spätestens seit dem Jahr 2000 wissen die EU-Regierungen von den amerikanischen Lauschprogrammen. Wer also jetzt behauptet, nichts gewusst zu haben, der lügt ganz einfach. Neu ist nur die Bestätigung und die Erkenntnis, dass die Lauschaktionen noch viel umfangreicher sind, als wir befürchtet hatten. Alles halb so schlimm, sagen viele, vor allem diejenigen, die die USA auch beim Überfall auf den Irak verteidigt hatten. Ansonsten schweigen die regierungstreuen Medien das Thema tot, ebenso wie die Bundesregierung. Das erste Auftreten des neuen Trainers des FC Bayern ist wichtiger. Andere sprechen vom größten Skandal seit ewigen Zeiten und wundern sich über die relativ geringe Empörung. Innenminister Friedrich erklärte, dass der BND die USA nicht ausspähe. Natürlich muss er das sagen, und natürlich wird es ihm niemand glauben. Warum sollten andere besser sein als die USA? Angela Merkel hat nach langem Schweigen erklärt, die Amerikaner seien unsere besten Freunde. Vielleicht sind wir ja auch deren beste Freunde. Und über gute Freunde möchte man doch alles wissen, oder? Also alles völlig normal. Okay, das war Ironie. Aber haben die Abwiegler nicht Recht, wenn sie sagen, dass wir hysterisch reagieren? Was ist schon dabei, wenn persönliche Informationen an ausländische Geheimdienste gehen? Wie viele breiten tagtäglich ihr Privatleben in sozialen Netzwerken aus, wo Millionen mitlesen können? Natürlich ist etwas dran an dem, was Spiegel-Online-Kolumnist Jan Fleischhauer schreibt, dass wir unsere Daten nicht dem Staat anvertrauen wollen, aber das wertvollste, was wir haben, unsere Kinder, nicht schnell genug in staatliche Obhut geben können. Doch dieser Vergleich hinkt gewaltig. Es geht nicht um ein paar Daten, wie sie jede Gemeinde, jedes Finanzamt hat. Es geht um die totale Überwachung unseres Lebens, um private Profile. Wir alle werden unter Generalverdacht gestellt. Man muss schon ziemlich naiv sein, wenn man ernsthaft glauben will, das alles geschehe nur aus Menschenfreundlichkeit und zu unserem Besten. Und um dem Vorwurd des Antiamerikanismus gleich entgegen zu treten: Das alles gilt auch für den britischen Geheimdienst, der zurzeit mehr spioniert als James Bond in seinen besten Zeiten.
Sind wir alle hysterisch?
Was wir in den sozialen Netzwerken veröffentlichen, haben wir weitgehend selbst in der Hand. Wenn aber auch alle unsere Telefonverbindungen und eMails erfasst werden, haben wir darauf keinen Einfluss mehr. Die Verharmloser nennen uns hysterisch, wenn wir es nicht so gut finden, dass ein fremder Staat, eine fremde Regierung alles über uns erfahren wollen. Doch die wirklichen Hysteriker sind diejenigen, die uns ausspionieren, weil sie hinter jeden Strauch und in jedem Unbekannten einen potenziellen Terroristen oder Staatsfeind sehen. Nicht wir Deutschen, sondern die Amerikaner selbst leiden unter Verfolgungswahn.
Ein falscher Begriff in der Betreffzeile, ein falsches Stichwort, eventuell schon ein Tippfehler genügen, um auf der Liste der Verdächtigen nach oben zu gelangen. Kann mir nicht passiren! werden viele sagen. Doch. Die Statistik dieser website zeigt, dass seit kurzem ein Drittel der Seitenabrufe von amerikanischen Adressen aus erfolgt, und zwar nicht von Google und Co.
Die NSA hat mit dem Prism-Programm deutsches Recht, EU-Recht und internationales Völkerrecht gebrochen. Davor sollten uns unsere Regierungen bewahren, doch sie tun nichts. Entweder es ist ihnen egal, oder sie machen mit den Amerikanern gemeinsame Sache. Die Forderung nach einem Rücktritt ist legitim.
Alles nur zu unserer Sicherheit
"Land of the free, home of the brave" heißt es in den letzten Zeilen der US-amerikanischen Nationalhymne. Doch wie frei ist ein Land, wie frei können seine Bürger sein, wenn alles und jeder überwacht nd kontrolliert wird? "Wer die Freiheit für die Sicherheit aufgibt verliert am Ende beides", sagte einst Benjamin Franklin. Ausgerechnet das Land, das die Freiheit so hoch hält, verschafft sich alle Mittel, genau diese Freiheit zu unterdrücken. Doch geht es wirklich nur um unser aller Siccherheit? Welcher Sicherheitsgewinn wurde erzielt, wie viele Teroranschläge verhindert, weil EU-Vertretungen abgehört wurden? In Afghanistan und im Irak hat sich die Zahl der Anschläge nicht verringert. Terroristen werden immer Wege finden, miteinander zu kommunizieren, ohne dabei entdeckt zu werden. Ist es nicht seltsam, dass man nicht (nur) die möglichen Terroristen belauscht, sondern (auch) diejenigen, die beschützen zu wollen die NSA vorgibt? Eine Erklärung dafür ist, dass wir alle mögliche Terroristen sind. Jeder ist verdächtig. Für die Geheimdienste gibt es keine Unverdächtigen, sondern nur ungenügend überprüfte. Damit verliert auch der gerne angebrachte Spruch "wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten" seine Berechtigung. Gerade wer besonders harmlos erscheint, ist besonders verdächtig. Wer sein Handy zeitweise ausschaltet, wer kaum Mails verschickt, wer keinen Facebook-Account hat oder wer bar bezahlt, ist verdächtig. Zu welchen Glanzleistungen die Geheimdienste fähig sind, haben wir gelegentlich lesen können, wenn wieder einmal ein Kleinkind wegen Terrorverdachts aus dem Flugzeug geholt wurde. Das hat uns stets amüsiert. In solchen Fällen ließ sich der Irrtum auch bald aufklären. Doch was ist, wenn wir bei der nächsten Einreise in die USA oder gar irgendwo auf der Welt auf offener Straße von Geheimdienst-Mitarbeitern verhaftet werden, weil Daten falsch verknüpft oder interpretiert wurden? Dann vergeht uns das Lachen vermutlich schnell, denn dann müssen wir unsere Unschuld beweisen, nicht umgekehrt. Ich fühle mich jedenfalls keineswegs sicherer, ganz im Gegenteil.
Es geht um mehr
Die Tatsache, dass auch die "Freunde" der USA in großem Umfang ausspioniert werden, zeigt, dass es hier noch andere Interessen bestehen. Deutschland wird bekanntlich auch am Hindukusch verteidigt, Amerika wird in der ganzen Welt verteidigt. Es geht bei Prism auch um machtpolitische und wirtschaftliche Interessen. Die USA sehen sich seit langem als Weltpolizei. Die Regierungen in Washington versuchen immer und überall, Einfluss zu nehmen und ihn zu sichern. Wir müssen nicht gleich an Weltherrschaft denken. Henry Kissinger hat einmal gesagt "Das Öl ist zu wertvoll, als das man es den Arabern überlassen darf". Das amerikanische Engagement dient nicht vornehmlich Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, sondern Wirtschaft, Rohstoffen, Macht und Einfluss. Dummerweise genügt es nicht, ein paar amerikafreundliche Regierungen zu stützen und die Völker mit McDonalds und Coca Cola zu beglücken. Die haben oft andere Vorstellungen davon, wie sie leben wollen. Daraus resultiert der Antiamerikanismus und letztlich der Terrorismus, den die Abhörprogramme kaum verhindern werden.
Wir dürfen davon ausgehen, dass auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Der amerikanischen Wirtschaft geht es nicht sonderlich gut, da möchte man gerne mal sehen, woran andere arbeiten. Viele, auch große, Unternehmen machen sich aus Bequemlichkeit oder Kostengründenn nicht die Mühe, ihren Mailverkehr zu verschlüsseln. In einigen Ländern ist das ohnehin verboten, in anderen haben die geheimdienste Generalschlüssel. Schon aus eigenem Interesse müssen wir der Schnüffelei Einhalt gebieten.
Risiko totale Überwachung
Neben der bereits erwähnten Gefahr, zu Unrecht verdächtigt und verhaftet zu werden, entsteht durch die Datensammelwut eine weitere Bedrohung. Eine totalitäre Regierung könnte sich die Daten zunutze machen, um ihre eigenen Bürger unter Kontrolle zu halten. Was wäre zum Beispiel, wenn die USA eine weniger liberale Regierung hätten, wenn Hardliner aus der Tea-Party-Bewegung die Macht im Weißen Haus übernehmen würden, wenn ein neuer McCarthy wieder zur Jagd auf vermeintliche Staatsfeinde, Kommunisten, Andersgläubige, Homosexuelle oder Nichtweiße bläst? Die notwendigen Daten und Profile wären schon vorhanden, um jeden unter Druck setzen zu können und gefügsam zu machen. Dann könnte Orwells Horrorvision doch noch Wirklichkeit werden, nur ganz woanders, als er gedacht hatte. Dazu passt eine aktuelle Theorie, die ein bißchen nach Verschwörungstheorie klingt: Die Staatsschulden der USA im Verhältnis zum BIP sind in den letzten fünf Jahren von 60% auf über 100% explodiert. Das könnte eine ernste Wirtschaftskrise auslösen und für Unruhen in der Bevölkerung sorgen. Gut, wenn man dann frühzeitig alle potenziellen Unruhestifter kennt.
Mittlerweile werden in den USA auch Journalisten und die Reste der freien Presse unter Druck gesetzt. Berichte zu bestimmten Themen sind nicht erwünscht. Amerika maßt sich an, dem Rest der Welt "moderne Zivilisation" beibringen zu müssen und tritt doch selber die Rechte mit Füßen, auf die es einst gegründet wurde. Nein, es gibt keinen Grund für uns, uns schon wieder als Amerikaner fühlen zu sollen.
Ist Edward Snowden ein Held?
Ganz klar, nach amerikanischem Recht ist er ein Verräter. Er hat Staatsgeheimnisse verraten. Auch wenn das Vorgehen der NSA hier und da das Völkerrecht und vielleicht sogar amerikanisches Rechht verletzt hat und er dann das Recht zur Befehlsverweigerung gehabt hätte, wäre der rechtlich richtige Weg der einer Meldung oder Anzeige an höhere Dienststellen gewesen. Doch machen wir uns nichts vor, damit hätte er vermutlich nur seinen Job verloren, sonst wäre sicher nichts weiter geschehen. So gesehen, und da die ganze Welt betroffen ist, war der Gang an die Öffentlichkeit der richtige Weg. Dafür hat er viel riskiert und auf sich genommen. Ihn nun zur "Sophie Scholl der USA" zu erklären, wie es der Stern tat, ist übertrieben, ihn ironisch zum Messias zu erklären, wie es Fleischhauer machte, ist dagegen tragikomisch und eher der verzweifelte Versuch, die Wirklichkeit zu ignorieren. Es ist ein einfacher rhetorischer Trick: Wenn du selber keine Arguments hast und die der Gegenseite nicht entkräften kannst, dann versuche, dein Gegenüber lächerlich zu machen. Edward Snowden ist ein Idealist, der für seine Überzeugung einsteht und ein Held. Aber keiner, den wir nun verehren oder anbeten müssen, denn neu war das alles ja eigentlich nicht. Wir hatten es verdrängt, und er hat es für eine kurze Zeit wieder in unser Bewusstsein geholt. Vielleicht geht nun der eine oder andere mit seinen Daten etwas bewusster um. Dann hat Snowden wenigstens etwas erreicht und dafür Dank und Anerkennung verdient. Wir können nicht jeden Whistleblower loben und beschützen, denn es gibt durchaus Staats- und Unternehmensgeheimnisse, die aus gutem Grund geheim sind. Doch wenn es wie hier um Grund-, Menschen- oder Völkerrecht geht, dann gibt es eine moralische Pflicht zur Aufklärung.