Wieder einmal sind einige hundert Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, das Mittelmeer zu überqueren, um in Europa Sicherheit und ein menschenwürdiges Dasein zu finden. Unsere Kanzlerin Angela Merkel fand die Situation schon im Februar "sehr unbefriedigend". Weniger Anteilnahme und Aussagekraft ist kaum möglich. Jetzt zeigten sich Politiker aller Fraktionen "schockiert", "entsetzt" oder sogar "tief betroffen". Bei so manchem dürfte es sich um pure Heuchelei handeln, denn nicht wenige wünschen sich insgeheim, dass durch solche Katastrophen weitere potenzielle Flüchtlinge abgeschreckt werden und sich das Flüchtlingsproblem somit von selbst erledigt. Zynisch ist das gespielte EU-Entsetzen deshalb, weil die EU die italienische Initiative "Mare Nostrum" nicht unterstützen wollte und statt dessen die billigere und mit weniger Reichweite ausgestattete Aktion "Triton" startete. Deren Ziel ist es weniger, in Seenot geratenen Menschen zu helfen, als die EU-Außengrenzen möglichst undurchlässig zu machen. Im Juristendeutsch würde man sagen, dass damit der Tod von tausenden von Flüchtlingen billigend in Kauf genommen wird. Sind das die eurpäischen Werte, sind das die westlichen Werte, die wir angeblich so heftig verteidigen und am besten in der ganzen Welt verbreiten sollen?

Wer auf der Straße einen Hilfebedürftigen ignoriert, muss mit einer Anzeige wegen unterlassener Hilfleistung rechnen. Auf dem Mittelmeer passiert genau dies und folglich gehört die gesamte EU-Spitze auf die Anklagebank. Doch nicht nur die Spitzenpolitiker der EU denken so. Zahlreiche Kommentare im Internet lassen den Schluss zu, dass ansehnliche Teile der "zivilisierten Welt" sich moralisch und kulturell auf frühsteinzeitlichem Niveau befinden.

Natürlich kann nicht Deutschland alles alleine stemmen, doch zunächst sind die Kosten überschaubar. Die Aktion "Mare Nostrum" hat etwa 10 Millionen Euro im Monat gekostet, im Jahr also 120 Mio. €. Klingt viel, ist es auch, und dennoch: Wenn die rund 40 Millionen deutschen Arbeitnehmer dafür einen "Soli" abgeben müssten, wären das gerade einmal 3 Euro pro Jahr für jeden. Wenn man das noch gerecht auf die EU verteilen würde, bliebe vielleicht ein Euro für uns. Ist das zu viel? Für manche schon, die Raten für den SUV, der Tauchurlaub auf den Malediven, das neue Super-Smartphone... Da bleibt ja kaum etwas übrig. Natürlich fallen weitere Kosten an für die Unterbringung und Verpflegung und natürlich können wir nicht den ganzen Orient und halb Afrika bei uns aufnehmen, wie es oft übertrieben dargestellt wird. Auch wenn Flüchtlingen und Asylbewerbern gerne unterstellt wird, sie wollten sich nur in unsere soziale Hängematte legen, so würden die meisten wohl gerne wieder in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie dort anständig leben könnten.

Es gibt hierzulande viele Menschen, die kaum bereit sind, ihr Heimatdorf oder gar ihre Region und damit Familie und Freunde zu verlassen, selbst wenn sie anderswo mehr verdienen könnten. Diese Menschen sollten sich einmal vorstellen, dass es auch anderen in fernen Ländern so geht und sich einmal fragen, in was für eine Situation sie selber geraten müssten, um so etwas auf sich zu nehmen. Wie verzweifelt müssen Menschen sein, die alles aufgeben, lange Wege durch unsichere Wüsten und eine Fahrt in einem ungeeigneten Boot auf sich nehmen, bei einer Überlebenschance von vielleicht 50%, um in einer völlig fremden Welt vielleicht ein neues Leben anfangen zu können? Sie alle pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge und Schmarotzer abzuqualifizieren, ist einfach und bequem, aber unfair. Sicher gibt es solche, aber die gibt es auch bei uns.

Um die Flüchtlingsströme einzudämmen, sind keine Abschottungs- oder Abschreckungsmaßnamhen erforderlich, sondern die Bekämpfung der Ursachen. Der Ansatz des deutschen Außenministers Steinmeier, Libyen wieder zu stabilisieren, ist allenfalls geeignet, die Flüchtlingsströme vorübergehend einzudämmen. An die Ursachen geht er nicht heran und deshalb wird er mittelfristig ohne Erfolg bleiben.

Wir haben es mit drei Arten von Flüchtlingen zu tun: Kriegs- , Hunger- und Armutsflüchtlinge. Letztere könnte man auch als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen. Die Grenzen zwischen diesen Gruppen sind fließend.

An Kriegen sind wir nicht ganz unschuldig. Die Interventionen vor allem der Amerikaner haben den Nahen Osten destabilisiert und in der Folge auch Nordafrika. Auch Deutschland liefert fleißig Waffen in Krisengebiete, was die Unruhen zusätzlich anheizt. Selbst Teile der SPD und sogar einige Gewerkschaftler befürworten diese Lieferungen, schließlich gehe es ja auch um Arbeitsplätze bei uns. Um ein paar tausend Arbeitsplätze zu sichern, die man angesichts des Fachkräftemangels sicher auch anderswo unterbringen könnte, müssen in entfernteren Gegenden möglicherweise hundertausende Menschen sterben. Die Betroffenen dort werden das sicher verstehen. Um in Syrien wieder Ordnung zu schaffen, müsste man auch mit den Russen sprechen, die Assad unterstützen, weil sie dafür einen Hafen nutzen dürfen. Doch das Verhältnis zu Moskau ist derzeit bekanntermaßen etwas frostig. Einige Aufständische dort werden u. a. von Daudi-Arabien unterstützt, dem wir gerne Waffen liefern. In Nordafrika und Teilen Zentralafrikas haben zudem noch die Chinesen ihre Finger im Spiel.

Für den Hunger sorgen neben Kriegen und Klimawandel auch große Konzerne und deren Kunden. Kleinbauern in Zentralafrika werden enteignet und ganze Dörfer plattgemacht, damit dort Palmölplantagen angelegt werden können. Daraus wird vorwiegend billiges Pflanzenfett gewonnen, das in zahlreichen Produkten zu finden ist. In Nordafrika werden die knappen nutzbaren Ackerflächen zweckentfremdet, um dort Gewürze und Gemüse für die europäischen Märkte anzubauen. Den Einheimischen bleibt kaum etwas übrig. Ölförderer müssen kaum Umweltstandards beachten, Mineralwasserproduzenten saugen das Grundwasser ab. Fabrikschiffe fischen die Ozeane auch in Küstennähe leer und bei den kleinen lokalen Fischern bleibt oft das Netz leer. Das alles, damit die Konsumenten in der EU billig einkaufen können, damit Produzenten, die Supermärkte und Discounter trotz niedriger Preise noch schöne Gewinne machen können. Die EU zahlt dafür ein paar 10 Millionen € als "Entschädigung" an korrupte Regierungen.

Armut schaffen wir, indem wir Menschen in Asien und Afrika um ihre Rohstoffe betrügen oder sie billig für uns schuften lassen, sei es in Fabriken oder Minen. Wir bekommen dafür billige Kleidung, Smartphones und Brötchen in der Aufbackstation. Zwei Drittel des weltweit verkauften Kakaos kommen aus Westafrika, und zwei Drittel davon werden in Kinderarbeit geerntet. Im Gegenzug schickt die EU Hähnchenteile, die uns Europäern nicht gut genug sind, nach Afrika, wo sie die Märkte überschwemmen und einheimische Produzenten ruinieren, ebenso Milchpulver aus unserer Überschussproduktion. Abgelegte Wegwerftextilien, als gut gemeinte Spende in arme Länder verschifft. machen die dortige Textilindustie kaputt und Hundertausende arbeitslos.

Wir leben günstig auf Kosten anderer und sind empört, wenn diese zu uns kommen wollen, um auch ein Stück vom Kuchen zu ergattern. Kann man es ihnen wirklich verdenken? Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der oft belächelte "Club of Rome" schon vor vielen Jahren davor gewarnt hat, dass Kriege, Hunger und zunehmendes soziales Gefälle zwischen erster und dritter Welt zu Flüchtlingsströmen führen würden. Was ist zu tun? Die Politik muss einen neuen Kurs finden, aber es wäre zu einfach, alles auf "die da oben" zu schieben. Auch wir Verbraucher tragen durch unser Verhalten zum Elend in der Welt bei. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, damit Verbesserungen möglich werden, und der Industrie Leitplanken setzen. Die Menschen in den Krisengebieten brauchen Frieden und Perspektiven für sich selbst. Sie benötigen keine Almosen von uns, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Dazu trägt Bildung ebenso bei wie Ausbildung, die auch bei uns stattfinden kann. Sie verdienen eine faire Bezahlung, wenn sie für uns arbeiten und wir müssen ihnen ihr Land lassen, damit sie ihre eigenen Nahrungsmittel produzieren können. Auch, wenn dadurch das neue Smartphone oder der Fernseher ein paar Euro und das Gemüse oder die Schokolade ein paar Cent mehr kosten. Längerfristig könnte sich das als die günstigere Lösung erweisen.

Ein Punktesystem für Asylbewerber ist nicht hilfreich und zudem unmoralisch. Hilfe nur denen zu gewähren, die einem nützlich sein können, sollte sich für eine zivilisierte Gesellschaft verbieten. Außerdem würde das dafür sorgen, dass die gut ausgebildeten Fachkräfte in ihren Heimatländern fehlen, was die Situation dort nur weiter verschlechtern würde.

Wir haben verschiedene Regionen und vor allem den afrikanischen Kontinent lange ausgebeutet. Nun bekommen wir die Rechnung dafür präsentiert und wir können und dürfen sie nicht ignorieren.