Ist Kritik an der israelischen Politik Antisemitismus?
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Ist Kritik an der israelischen Politik antisemitisch?
Günter Grass hat ein israelkritisches Gedicht "Was gesagt werden muss" (ich würde es eher als Sammlung von Thesen bezeichnen) veröffentlicht und damit, wie wohl auch von ihm erhofft, einen mdialen Sturm entfacht. Die Kernaussage ist, dass Israel den Weltfrieden in Gefahr bringe. Die üblichen Empörten und zahllose Kommentatoren in Zeitungen, Fernsehen und Internet beeilen sich sogleich und reflexartig, Grass' Thesen als antisemitische Ungeheuerlichkeit zu diskreditieren. Würden sie sich einmal darüber informieren, wer und was Semiten eigentlich sind und was folglich Antisemitismus bedeutet, würde ihnen klar werden, dass eine solche Beschuldigung in diesem Fall unsinnig ist. Das Existenzrecht Israels wird in keiner Zeile infrage gestellt. Der Text richtet sich nicht gegen Semiten, nicht gegen das Judentum, nicht gegen das israelische Volk. Er richtet sich alleine gegen die Regierung Netanjahu und deren Unterstützer. Das Totschlagargument des Antisemitismus wird vor allem immer dann herausgeholt, wenn eigene überzeugende Gegenargumente fehlen. Schelte gibt es viel, aber Argumente gibt es kaum.
Man fühlt sich fatal an die Situation vor dem Irakkrieg erinnert. Dieselben Kritiker, die damals über die Gegener des amerikanischen Angriffs herzogen (wegen der Massenvernichtungswaffen), versuchen heute Günter Grass zu diffamieren. Sie haben nichts dazugelernt. Einige scheinen erst einmal abgewartet zu haben, in welche Richtung die Diskussion geht, um sich dann dem Mainstream anzuschließen. Erstaunlich ist dabei, dass der Rummel um das Gedicht Grass' in Deutschland sehr viel größer ist als in Israel, wo man den Text kaum zur Kenntnis nimmt.
Worum geht es in dem Gedicht? Der Literaturnobelpreisträger warnt vor den unabsehbaren Folgen eines Krieges zwischen Israel und dem Iran. Israel fühlt sich durch die verbalen Attacken des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad bedroht und will dieser Bedrohung durch einen präventiven Angriff begegnen. Israel nimmt für sich das Recht auf einen Erstschlag in Anspruch. Deutschland liefert ein weiteres U-Boot an Israel, das in der Lage ist, auch Raketen mit nuklearen Sprengköpfen abzufeuern. Isreal ist Atommacht, entzieht sich aber jeglicher Kontrolle seiner Anlagen. Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Frieden, sagt er. Dass es alleine den Frieden gefährdet, wie manche Kritiker es interpretieren, sagt er nicht. Zum Schluss drückt Grass die Hoffnung aus, unabhängige Kontrollen auf beiden Seiten und weitere Verhandlungen könnten den Frieden retten, wenn noch mehr Menschen ihr Schweigen zu diesem Thema brechen.
Wie sieht es nun mit den Fakten aus? Ja, es stimmt, die Regierung in Teheran hat angedroht, Israel von der Landkarte tilgen zu wollen. Doch auch in der Knesset gibt es Rechtsextreme, pardon, Ultraorthodoxe, die gerne alle Muslime, wenigstens aber alle Palästinenser, ausrotten würden. Ja, der Iran betreibt ein Atomprogramm. Nur: Vorbereitungen für einen Angriff auf Israel sind nicht erkennbar, Israel hingegen wirbt für Unterstützung für einen Erstschlag. Die Absicht zum Bau einer iranischen Atombombe ist bisher nicht bewiesen, Israel verfügt über Atomwaffen. Der Iran hat den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, Israel nicht. Die Lieferung von Waffensystem an Länder, die den Sperrvertrag nicht unterzeichnet haben, ist verboten, doch (nicht nur) Deutschland macht hier eine Ausnahme.
Es ist sicher etwas überzogen, wenn Grass sagt, ein israelischer Erstschlag gegen den Iran würde die Bevölkerung dort auslöschen. Doch es ist naiv, anzunehmen, dass eine Zerstörung der Atomanlagen kaum Auswirkungen auf die Bevölkerung hätte. Und wie andere arabische und muslimische Staaten reagieren würden, kann man erst recht nicht vorhersagen. Ein solcher Krieg könnte zu einem Flächenbrand werden und auch den Terror in der Welt wieder befeuern. Davor zu warnen, ist legitim. Die Folgen sind unkalkulierbar. Ganz klar: Es ist denkbar, dass der Iran nach der Atombombe strebt und es iist möglich, dass Präsident Ahmadinedschad verrückt genug ist, sie einzusetzen. Schon weil Atomkraft an sich keine gute Sache ist, wäre es besser, wenn sich der Iran auf andere Quellen besinnen würde. Doch kein Land der Welt hat das Recht, einem anderen, das noch nicht einmal ein direkter Nachbar ist, vorzuschreiben, wie es seine Energie erzeugen darf und das notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Betrachtet man die amerikanische politik in der Golfregion, dann wird auch klar, warum sich einige Staaten mit einer Atombombe in der Hinterhand sicherer fühlen. Es wäre allerdings verhängnisvoll, wenn hier ein neues "Gleichgewicht des Schreckens" aufgebaut werden würde. Die Welt hat wirklich andere Sorgen.
Ministerpräsident Netanjahu würde mit einem Angriff den Frieden in der Region nicht sichern, sondern dauerhaft zerstören. Israel wird nicht umhin können, einen Teil der besetzten Gebiete zurückzugeben und seine agressive Siedlungspolitik aufzugeben, um ein Zeichen des guten Willens zu setzen. Anders wird die Wut der Palästinenser und Araber in der Region nicht zu vermindern sein.
Was Günter Grass hier sagt, ist nicht antisemitisch. Das kann man eher Thilo Sarrazin vorwerfen, der sich ähnlich rechtfertigt mit dem Stammtischspruch "Das wird man doch noch sagen dürfen." Ist Grass der Tabubrecher, als der er sich sieht? Ein bißchen schon. Er sagt zwar nicht Neues, ein paar Tatsachen, ein paar Ansichten, aber man darf so etwas in Deutschland offenbar nicht öffentlich aussprechen, wie der Wirbel um seine Äußerungen zeigt. Warum darf man hierzulande nicht offen sagen, dass die Regierung in Jerusalem im Begriff ist, gegen das Völkerrecht zu verstoßen? Mit Hinweisen auf die Geschichte, den Holocaust oder Antisemitismus versucht sich die Regierung einen "Persilschein" auch für Aktionen zu verschaffen, die über das Recht auf Selbstverteidigung hinaus gehen. Laut einer Umfrage hat Grass in der deutschen Bevölkerung 85% Zustimmung. Israel muss aufpassen, dass es nicht zum Auslöser eines Stimmungswandels gegen das Land und das Judentum im Allgemeinen wird. Auch das musste einmal gesagt werden. Wir sind doch so stolz auf unsere Meinungsfreiheit! Und den Kritikern wünsche ich etwas mehr Objektivität und einen weniger verkrampften Umgang mit dem Thema Israel.